Stalling-Fibel machte weltweit die Genfer Konventionen bekannt

Jahr 1954 trat die Bundesrepublik Deutschland den vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949 bei, den sogenannten Genfer Rotkreuz-Konventionen. Damit übernahm sie auch die Verpflichtung, die Inhalte der Konventionen in der Bevölkerung und seinen Streitkräften zu verbreiten. Aber auch das Rote Kreuz nahm sich dieser Aufgabe intensiv an, wie wir anhand einer kleinen Fibel aus dem Oldenburger Stalling-Verlag sehen können.

Der Autor
Der Justiziar des DRK-Landesverbandes Oldenburg, Dr. Julius Stedler (1888-1959), erstellte eine kleine bebilderte Fibel im Postkarten-Querformat. Sie umfasst insgesamt 30 kolorierten Bilder und jeweils eine kurze Erläuterung von Schutzbestimmungen aus den Genfer Konventionen. Die farbigen Illustrationen dazu fertigte Josef Riesmann vom Stalling-Verlag. Die Fibel zeigt jeweils rechts ein Bild und links in einem kurzen Text die wichtigsten Bestimmungen der Genfer Konventionen. Eine nur kurze Einleitung steht der Fibel voran. Die Besonderheit dieser Fibel ist, dass sie in verschiedenen Sprachen gehalten ist. Eine erste Fassung (1956) bietet die Sprachfassungen Französisch, Englisch, Chinesisch, Russisch, Japanisch, Arabisch, Spanisch, Deutsch und Hindi. Weitere Sprachen kamen später hinzu. Die Schlussredaktion der Fibel fand Anfang Dezember 1956 in Oldenburg statt. Dazu kam extra ein Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) aus Genf nach Oldenburg. Das IKRK ist der Herausgeber dieser Fibel und über das IKRK wurden die meisten Fibeln auch verteilt. In einer Pressenotiz in der „Nordwest-Zeitung“ vom 6. Dezember 1956 wird stolz vermerkt, dass geplant werde, den Teilnehmern der XIX. Internationalen Konferenz des Roten Kreuzes, die vom 28. Oktober bis 7. November 1957 in Neu-Delhi (Indien) stattfand, jeweils eine Fibel
zur Verfügung zu stellen. In der Zeitung wird darauf hingewiesen, dass gerade Jugendliche als Zielgruppe für diese Fibel gelten. Die Verbreitungsarbeit und die Jugend im Roten Kreuz waren insbesondere Beratungsgegenstand der Internationalen Rotkreuz-Konferenz. Auch lesen wir weiter, dass die Idee schon viel früher entstand, der Ungarn-Aufstand und die Suez-Krise zeigten, wie wichtig schnell erfassbare Informationen in Krisen sind. Eine erste Fassung dieser Fibel fand jedoch bereits im Januar 1956 als Pflichtexemplar-Abgabe des Stalling-Verlages Eingang in den Bestand der Landesbibliothek Oldenburg. Diesem Exemplar fehlen noch die Seitennummern, alle weiteren Fassung haben solche Nummerierungen.

Erste Auflage
Eine erste Auflage (ab Dezember 1956) umfasste 25.000 Exemplare und hielt bis 1960 vor. Dr. Stedler war bereits im Zweiten Weltkrieg als Reserve-Hauptmann mit einer kleinen bebilderten Broschüre hervorgetretenden, den „Bildliche[n] Schießregeln“. Ab April 1955 bot Dr. Stedler darüber hinaus in einer fünfteiligen Kurzserie Hintergrundwissen zu den Genfer Konventionen in der „Nordwest-Zeitung“ an. Er wurde im Dezember 1955 als Verbandsjustitiar in den DRK-Landesvorstand gewählt. Zu Beginn des Jahrs 1957 berichtete die „Revue Internationale de la Croix-Rouge“, das Mitteilungsblatt des IKRK, von dieser neuen Publikation. Dort finden sich auch Abbildungen aus der Fibel. Das IKRK rät in diesem Artikel den Einsatz der Fibel für Jugendliche ab 12 Jahren und vermerkt, dass dies zunächst nur eine Startauflage sein soll. Sofern Nationale Rotkreuz-Gesellschaften Interesse an weiteren (Sprach-)Ausgaben hätten, würde das IKRK entsprechend tätig werden.

Zur Weltausstellung
Im Jahr 1958 wurden von der Stadt Oldenburg insgesamt 1.000 Exemplare der Fibel dem Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel zur Verfügung gestellt. Sie wurden dort in Vitrinen im Pavillon 8 des Deutschen Pavillon an prominenter Stelle ausgestellt und verteilt. Diese Exemplare waren innerhalb von drei Tagen vergriffen, so dass aus Genf kurzfristig erneut 1.000 Exemplare nachgefordert wurden. Für die Bereitstellung der Fibeln erhielt der Oldenburger Oberstadtdirektor Jan Eilers ein Anerkennungsschreiben des Generalkommissars der Bundesrepublik Deutschland bei der
Weltausstellung. Die Internationale Rotkreuz-und Rothalbmond-Bewegung war mit einem eigenen Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung vertreten, der ebenfalls die Themen aus der Fibel aufnahmen: Hilfe für Gefangene, Unterstützung für Zivilpersonen und politische Häftlinge, Verbreitung des Humanitären Völkerrechts und Zentraler Suchdienst.

Die verschiedenen Fassungen
Dr. Stedler erlebte leider nicht mehr, wie seine Fibel einen weiteren Weg in die Welt antrat, er starb im Dezember 1958, denn in den Folgejahren erfuhr die Fibel weite Verbreitung in immer weiteren Sprachen. Folgende Sprachvarianten sind bisher bekannt:
Erstausgabe: Französisch, Englisch, Chinesisch, Russisch, Japanisch, Arabisch, Spanisch, Deutsch, Hindi
Ausgabe A: Französisch, Englisch, Chinesisch, Russisch, Japanisch, Arabisch, Spanisch, Deutsch, Lingala
Ausgabe B: Französisch, Englisch, Chinesisch, Indonesisch, Japanisch, Arabisch, Persisch, Urdu, Hindi
Ausgabe C: Französisch, Englisch, Chinesisch, Indonesisch, Japanisch, Arabisch, Persisch, Kambodschanisch, Hindi
Ausgabe D: Französisch, Englisch, Kikongo, Luba, Suaheli, Lingala, Spanisch, Deutsch, Arabisch
Ausgabe E: Französisch, Englisch, Dänisch, Russisch, Deutsch, Arabisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch
Ausgabe F: Französisch, Englisch, Kikongo, Luba, Suaheli, Lingala, Spanisch, Portugiesisch, Arabisch.

Während man gerade noch wissen könnte, dass Hindi in Indien gesprochen wird, ist die Frage nach der Verbreitung der Sprachen wie Kikongo, Luba, Lingala, Suaheli und Urdu etwas schwieriger. Die
ersten drei Sprachen werden in der heutigen Demokratischen Republik Kongo und der Republik Kongo gesprochen, Lingala darüber hinaus auch in Angola, einem Nachbarstaat. Das IKRK reagierte im November 1961 u.a. mit einem Appell an den Präsidenten des Kongo und der Verteilung von 6.500 Fibeln (Ausgabe A) an Mitglieder der kongolesischen Streitkräfte auf die mangelnde Einhaltung der Genfer Konventionen im Rahmen der Kongo-Krise, die von 1960 bis 1965 dauerte. Die Hilfs- und Unterstützungsaktionen des IKRK für die Zivilbevölkerung im Kongo beliefen sich auf rund ein Fünftel seiner Jahresausgaben für Hilfsprojekte für das Jahr 1960. Suaheli ist Amtssprache in folgenden afrikanischen Ländern: Tansania, Kenia, Uganda und Ruanda. Urdu wird in Pakistan, Indien, Afghanistan, Bangladesch, Nepal, den Vereinigten Arabischen Emiraten und im Iran gesprochen.

Alle Fibeln unterscheiden sich im Aussehen nur sehr geringfügig. So gibt es von der ersten Sprachfassung Exemplare mit Seitennummerierung und solche ohne (Landesbibliothek Oldenburg, N: 56-
0690,6). In diesen beiden Fassungen sind die Bilder auf den Seiten 14 und 21 nur mit Roten Kreuzen versehen; alle nachfolgenden Fassungen verwenden zusätzlich zum Rotkreuzzeichen auch den Roten Halbmond und den Roten Löwen, das Schutzzeichen, das bis 1980 nur in Persien genutzt wurde. Eine ähnliche Fibel gelangte im Jahr 1962 in das Archiv des IKRK. Die darin abgebildeten Zeichnungen sind denen der Erstfassung vergleichbar, hier jetzt jedoch nur schwarzweiß/rot-farbig wiedergegeben und diesmal die Texte nur zweisprachig gestaltet: koreanisch und chinesisch.

Weitere Materialien
Nach der Gründung der Bundeswehr wurde Unterricht für Soldaten nun auch zu den Themen des Humanitären Völkerrechts notwendig. Die Bundeswehr nutze dazu die Bilder in abgewandelter Form und
von einem anderen Illustrator erstellt (Willi Engelhardt, München) für weitere Hefte zur Verbreitung der Inhalte der Genfer Konventionen. So wurde ab 1958 das Heft „Genfer Abkommen in Bild und Wort“ ebenfalls im Stalling-Verlag herausgegeben, das in verschiedenen Auflagen bis Dezember 1983 nachgedruckt wurde. Da für diese Hefte (63 Seiten) die Zielgruppe eine andere war (Bundeswehrangehörige), weichen die Bilder von denen in der Fibel ab. Diese neuen Bilder finden sich aber auch in einem weiteren Heft der Bundeswehr: „Land-Luft- und See-Kriegsrecht in Bild
und Wort“, das 1960 und 1962 wiederum im Stalling-Verlag erschien und vom Bundesministerium der Verteidigung, unter dem damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, herausgegeben wurde.
Weiter gab es eine Dia-Bild-Serie, denen das Heft „Genfer Abkommen in Bild und Wort“ als „Erläuterungsbuch dienen“ sollte.

Die Fibeln sind zur Ansicht online über https://library.icrc.org/library/ verfügbar.

Herzlichen Dank für die Unterstützung der IKRK-Bibliothek für die Zurverfügungstellung von Scans aller dort vorhandenen Fassungen.

Erschienen in der „Nordwest-Heimat“, einer Beilage der „Nordwest-Zeitung“ Oldenburg, 18. September 2021.

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