IKRK und nichtstaatliche Akteure

Im vergangenen Jahr zählte das IKRK 614 bewaffnete Gruppen, die für ihre Einsätze auf der gesamten Welt von Bedeutung waren. Mit etwa drei Viertel dieser Gruppen steht das IKRK in Kontakt um sein humanitäres Mandat umsetzen zu können.

Die Zusammenarbeit auch mit nichtstaatlichen Akteuren in bewaffneten Konflikten ist eine wichtige Voraussetzung für das IKRK, da es ansonsten keinen Zugang mehr zu den geschützten Personengruppen erhält, die unter seinen Schutzauftrag fallen. Man schätzt, dass 60 bis 80 Millionen Menschen unter ausschließlicher Kontrolle nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen leben.

Dem IKRK bietet die Zusammenarbeit mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren den Weg, seine Arbeit als neutrale, unabhängige und unparteiische Organisation darzustellen und notwendige Hilfen anbieten zu können. Dazu gehört selbstverständlich auch die Vermittlung von Inhalten des Humanitären Völkerrechts an die nichtstaatlichen Akteure, da so diese Regeln bekannt gemacht werden können und deren Einhaltung verbessert werden kann. Nur durch die Akzeptanz aller Konfliktbeteiligten ist es möglich, Zugang zur Bevölkerung und damit zu Personen zu erhalten, die in den nichtstaatlich kontrollierten Gebieten leben oder in denen diese Gruppen operieren. Dem IKRK kommt dabei eine besondere Rolle zugute, die in den gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Abkommen von 1949 festgelegt sind. Demnach kann das IKRK allen am Konflikt beteiligten Parteien seine Dienste anbieten; staatlichen, wie nichtstaatlichen Akteuren.

Als praktische Beispiele seiner Arbeit in diesem Bereich seien hier die Arbeit des IKRK in Jemen, Kolumbien und Afghanistan genannt:
• Im vergangenen Jahr hat das IKRK zwischen den jemenitischen Behörden und der Ansarullah-Bewegung 1.056 Gefangenen austauschen können. Dieser Austausch konnte nur dank der Vertrauensstellung des IKRK in seiner Eigenschaft als neutraler Vermittler durchgeführt werden.
• In Kolumbien hat das IKRK in den letzten Jahrzehnten ca. 1.800 Personen die Freilassung ermöglichen können, die von nichtstaatlichen Akteuren festgehalten wurden, allein im letzten Jahr waren es 22 Personen.
• Seit über einem Jahrzehnt führt das IKRK Gefangenenbesuche in Afghanistan bei Gefangenen durch, die von den Taliban im Westen Afghanistans gefangen gehalten werden. Gleichzeit betreut das IKRK Gefangene in afghanischen oder internationalen Gefängnissen oder unter amerikanischer Hoheit festgehaltene Personen (z. B. in Guantanamo).

Anlässlich seiner Gefangenenbesuche bietet sich dem IKRK die Möglichkeit, sein humanitäres Anliegen zu erläutern und für ein besseres Verständnis des Humanitären Völkerrechts bei den nichtstaatlichen Akteuren zu werben. Das IKRK bietet darüber hinaus regelmäßig Unterstützung bei der Bereitstellung von Hilfen für Personen an, die unter Kontrolle nichtstaatlicher Akteure leben. Dazu kann auch die Beseitigung von nichtex-plodierten Waffenresten gehören, um zum Beispiel der allgemeinen Bevölkerung wieder die Benutzung von landwirtschaftlichen Flächen zu ermöglichen. Die Rehabilitation, Wiedereingliederung oder der Wiederaufbau von funktionierenden medizinischen Struk-turen im Konfliktgebiet sind weitere Aufgaben, die das IKRK in diesem Zusammenhang leistet.

In den letzten Jahren bemerkt das IKRK aber zunehmend Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren. So schritt die Ausbreitung nichtstaatlicher Akteure im letzten Jahrzehnt immer weiter voran. Immer mehr Gruppen bilden sich und es wird immer schwieriger lokalisieren zu können, welche Anliegen diese neuen Gruppen in einem bewaffneten Konflikt verfolgen.

Verhandlungen mit staatlichen Akteuren sind viel einfacher durchzuführen, da hier in den meisten Fällen die Führungsstrukturen geregelt und bekannt sind. Bei nichtstaatlichen Akteuren müssen immer wieder die sich ständig verändernden Strukturen hinterfragt werden; allein die Frage, wer eine dieser nichtstaatlichen Gruppen, Gruppenallianzen oder Splittergruppen führt, kann schon eine Herausforderung darstellen.

Auf der anderen Seite bilden immer neue gesetzliche Maßnahmen von Staaten eine Hürde für die Verhandlungen mit nichtstaatlichen Akteuren in bewaffneten Konflikten. Die Einstufung eines nichtstaatlichen Akteurs als „Terroristische Organisation“ kann zum Beispiel die Arbeit des IKRK erschweren und möglicherweise den Zugang zu solchen Gruppen unmöglich machen. Sofern humanitäres Handeln nicht aus dem Anwendungs-bereich von staatlichen Anti-Terror-Maßnahmen und Sanktionsregimen ausgeschlossen wird, drohen der IKRK-Tätigkeit, und die anderer humanitärer Organisationen, ernsthafte rechtliche und operative Hindernisse.

Das humanitäre Engagement mit nichtstaatlichen Akteuren in bewaffneten Konflikten ist keine Neuigkeit; wie bereits erwähnt, gibt es bereits seit 1949 hier grundlegende Regelungen in den Genfer Abkommen. Es ist eine humanitäre Notwendigkeit und ein unverzichtbarer Weg, den alle unparteiischen humanitäre Organisationen beschreiten müssen, um allen von bewaffneten Konflikten betroffenen Personen helfen zu können und sie zu schützen.

Ob es darum geht, inhaftierten Regierungssoldaten die Kommunikation mit ihren Angehörigen zu ermöglichen, bedürftige Bevölkerungsgruppen mit Nahrungsmitteln zu versorgen oder Impfstoffe an Personen außerhalb der Reichweite staatlicher Behörden zu verteilen – die humanitären Anliegen dieser Tätigkeiten sind von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in bewaffneten Konflikten zu unterstützen.

Weitere Infos:
ICRC Engagement with Non-State Armed Groups; Why, how, for what purpose, and other salient issues. IKRK Positionspapier, März 2021
ICRC engagement with non-State armed groups: why and how

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